Das Merkheft am Ende

des Universums...


ein Essay von M. Boerzel


 

Ja, das waren noch Zeiten, als es vom 'Atavismus' zum 'Anachronismus' nur ein Schritt war ...

Ein Schritt hin zum Billy-Regal natürlich, wo an zentraler Stelle das Fremdwörterlexikon stand und links und rechts neben ihm türmten sich die 2001-Bücher in schwindelerregende Höhen ...

Damals, als es noch ebensoviel Zukunft gab wie Optimismus, als ein Harald Schmidt noch in kurzen Hosen um die Nürtinger Hühnerhöfe zog und eine Frau Susemihl noch ihre Kolumne hatte - damals gab es sowas wie Atavismen ja überhaupt noch nicht. Ein Grund mehr also, sie im Lexikon nachzuschlagen ...

Und heute?

Heute ist natürlich alles ganz anders. Da jubelt etwa das Feuilleton entzückt auf, wenn jener Harald Schmidt, mittlerweile Langhosenträger, seine Arbeitsstelle beim Werbefunk wieder einnimmt. Was aber vermeint man bei einem wie Schmidt zu finden? Vielleicht das, was einmal der Merkheft-Autor Ralf Kessenich so treffend in wenige Worte verpackt hat: Schutz & Zuflucht, Grazie & Gaukelei ...

Sicher, er meinte sich selbst damit und seine Wirkung auf eine zunehmend konfus agierende Umwelt - aber beschreibt er nicht auch exakt den kurzen Augenblick der Erlösung von allen Übeln dieser Welt, wenn diesen durch eine kleinen Moment der Heiterkeit alle Erdenschwere entzogen wird?  Denn es gibt sie ja wirklich, diese Typen, die es vermögen, auch in der dicksten Krise noch einen Silberstreif an den Horizont zu nageln. Groucho Marx war so einer, oder Robert Gernhardt. Hellmuth Karasek soll sogar einmal gesagt haben, allein Heinz Ehrhardt habe ihn die bleiernen 50er Jahre intellektuell überleben lassen. Mag ja durchaus sein, ich glaube aber eher, der wollte nur, dass sein Statement zum runden Ehrhardt-Geburtstag auch im Fernsehen gesendet wurde!

Und dann gab es eben noch Lutz Kroths Zweitausendeins-Versand und sein Zweitausendeins-Zentralorgan, das Zweitausendeins-Merkheft und das gehört einfach mit in diese Aufzählung.

Das segensreiche Wirken des Merkhefts ist oft und gerne beschrieben worden, das muss jetzt nicht noch mal sein, aber à propos Segen - es erfüllte auf seine Art durchaus einen zentralen Punkt christlicher Heilslehre, jenes urige Postulat 'Geben ist seliger denn nehmen' natürlich. Denn siehe: es war kostenlos! (Obwohl: genommen haben sie selbstverständlich auch immer gerne bei 2001, der Herr stehe mir bei!) Ausserdem wurde es auf Gesangbuchpapier gedruckt, das so unvergleichlich in den Fingern zu rascheln verstand, als wollte es einem zwischen den Zeilen zuraunen: "Es ist nicht alles eitel Kommerz in dieser Welt!"

Ja, war das Merkheft nicht sogar eine Art Reiseführer zu den Überlebenshilfen des 20. Jahrhunderts? Die Antwort auf alle ungestellten Fragen war dann allerdings nicht '42' sondern '37' - nach 37 Jahren nämlich verkaufte Lutz Kroth sein Unternehmen an die Gebrüder Kölmel und ihr 'Kinowelt'-Imperium. Das war rückblickend vielleicht nicht die beste Idee, aber zunächst einmal konnte mit dem riesigen Film-Fundus der neuen Gesellschafter der wegbrechende CD-Markt kompensiert werden.

Dann jedoch, vor einigen Jahren, begann die alte Kumpanei zwischen Unternehmen und Kundschaft sich von beiden Enden her aufzudröseln.

Zwar war das Projekt von Anfang an mit einem gewissen Risiko behaftet, schliesslich trug man seit Gründung das Verfallsdatum ja flott im Firmennamen spazieren - aber ungeachtet dessen waren es drei Fatalismen, die den alten Dampfer in rauhe Gewässer abdriften liessen:

Zum einen die unleugbare Tatsache, dass die erste Fuhre der 2001-Afficionados sich so langsam auf den langen Marsch durch die Altersheime begeben dürfte. Es ist immer wieder behauptet worden, das Unternehmen 2001 sei niemals ein Ein-Generationen-Projekt gewesen - aber da sollte man sich nicht zu sicher sein, ein Blick in den Musikteil genügt, um die Hauptklientel zu enttarnen. Wohl wahr, es gibt bestimmt jede Menge 20jährige, die ganz verrückt sind nach den Archies, Frijid Pink oder Hawkwind (Grundgütiger!), aber ... ach, egal, egal!

Zum zweiten änderten sich durch den Verkauf natürlich die innerbetrieblichen Verhältnisse. Und das nicht zu knapp. Kroth, soviel bleibt festzuhalten, verstand sich als eine Art Trüffelschwein, das für seine Leser begierig alles an Land zog, was gut und billig war und das man der Kundschaft - und sei's auch mit sanfter Gewalt (Die Fackel!) - prächtig verkaufen konnte. Ein Trüffelschwein, das gerne auch mal Perlen vor die Säue warf. Die prachtvollen 'Haidnischen Alterthümer' etwa, oder, zu meiner ganz besonderen Freude, die herrlichen Charles Fort-Bände. Man kann sich direkt bildlich vorstellen, wie Kroth seinerzeit mit seinem goldenen Verlegerfinger auf ein Buch pochte und krakeelte: "DAS will ich haben - das ist gut für den Leser!"

Eine Vorstellung, die dem heutigen Management wohl ziemlich subversiv erscheinen dürfte ...

Nachdem Lutz Kroth ausgeschieden war, übernahm Till Tolkemit die Ruderpinne und schaffte es gut Kurs zu halten, jedenfalls für eine gewisse Zeit - denn kaum hatte er den Job begonnen, war er auch schon wieder verschwunden und sämtliche Crewmitglieder der alten Mannschaft sollten nach und nach folgen - mit dem Arbeitsklima ging es nun ebenso rapide bergab wie mit dem Umsatz. Als letzter der alten Garde heuerte diesen Sommer Ralf Kessenich ab und der schien dann gleich noch den Web-Layouter mitgenommen zu haben und sogar den Biermann-Link hat es mittlerweile von der Firmen-Seite gekegelt.

Mit anderen Worten: wurden andere Firmen entrepreneurmässig 'entkernt', hatte man 2001 eben fachgerecht 'entseelt': Tante Emma goes Sales-Marketing, Adorno vs. Counterstrike und aus die Maus.

Womit wir beim dritten Punkt wären: der Verlagerung ins Netz - und den Übergang ins digitale Zeitalter hat 2001 nie so richtig geschafft. Wie denn auch - das Merkheft ist nach dem Wundertütenprinzip aufgebaut - wer weiss, was er will, steht hier von Vornherein auf verlorenem Posten. Nicht umsonst steht schliesslich geschrieben: nur wer suchet, der findet! Nun gibt es zwar viele Leute, denen es ein Hochgenuss war, das Quartheft von vorne bis hinten durchzublättern, -zuwühlen , -zulesen, ich war ja selber so einer, aber hat man je von einem Menschen gehört, der es länger als 5 Minuten geschafft hätte, den 2001-Cyber-Katalog zu wälzen? Never! Denn es ist gleichsam die digitale Höchststrafe des Herrn, sich durchs Internetz-Merkheft wühlen zu müssen. Trotz Filtern und Suchmaschine bleibt alles schrecklich unübersichtlich, macht einfach keinen Spass und daran ist wohl auch nichts zu ändern, amen.

Und jetzt?

Was nach all den Jahren bleibt, ist ein Versand, der mittlerweile so beliebig daherkommt wie der Büchergrabbelstand im Kaufhof. Dem man den letzten Rest Subversivität ausgetrieben hat, der aber trotzdem so tut, als wäre er unbeirrt als Leuchtturm der Aufklärung unterwegs, was jedoch allein schon deshalb nicht funktionieren kann, weil doch Leuchttürme an sich Mahnmale der Immobilität sind! Eine gleichsam doppelte Katastrophe ist demnach über Kunden und Leser gekommen - sie schwinden dahin und werden obendrein auch noch verulkt. (In der Welt der Schlachthöfe, von der wir alle nichts wissen wollen, heisst sowas Schlachtnebenproduktrecycling, hat aber mit dem Thema jetzt nicht sonderlich viel zu tun.)

Die neue Generation der 2001-Kunden wird sich daran gewöhnen müssen, zahlende Verfügungsmasse in den Planspielen des Verlags zu sein. Schutz & Zuflucht, Grazie & Gaukelei? Da sei der Herr Kölmel vor! Aber wer weiss: vielleicht entwickelt sich gerade dadurch eine völlig neue Art der Kommunikation zwischen den Parteien? Also am besten schnell noch ein paar Bücher über 'Emergenz' ins Programm drücken!

Vielleicht aber - und das erscheint mir dann doch wahrscheinlicher - ist es einfach nur das nahende Ende vom Lied, das bekanntlich in allen Dingen schläft.

Und so schippert der alte Äppelkahn 2001 halt noch ein bisschen dahin, richtungslos, führungslos, ahnungslos.

Womit sich der Kreis schliesst, jedenfalls der dieses Aufsatzes: denn gäbe es das Merkheft in seiner alten Form noch - es wäre schlicht ein Anachronismus. Der Rückfall in alte Produktionsweisen aber ist ein trefflicher Atavismus und somit möchte man der neuen Belegschaft nur noch zurufen: "Viel Glück trotz alledem, vielleicht wird's ja doch noch was ... aber wohl eher nicht!" Und dann, mit tiefem Ernst in der Stimme: "Und ändert endlich mal euren Namen - in 3001 am besten, das gibt euch etwas Luft nach oben!"

Der alten Crew aber möchte man hinterherplärren: "Schön, dass es euch gegeben hat und dass wir als Anhalter mitfahren durften, durch die Untiefen der Kultur, der Gutenberg-Galaxis und den ganzen Rest - das geht voll in Ordnung, sowieso, genau!"

Und danke für den Fort!

 

 

 

Ja, Buchmesse, Frankfurt, 2010, DAS waren noch Zeiten ...


 

                                                                        

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