Anke Kessenich, Kuratorin im Hans-Ralfs-Haus, Neuhaus
Jochen Weigelt, Die Farbe Rot und einige ihrer besten Freunde, 25.9.2016
Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Gäste, ich begrüße Sie recht herzlich hier im Hans–Ralfs-Haus für Kunst und Kultur zur Eröffnung der Ausstellung „Die Farbe Rot und einige ihrer besten Freunde“ – Verführerische Fotografien von Jochen Weigelt.
Jochen Weigelt fotografiert am Niederrhein rund um und in Wesel. Das liegt ca. 25 Kilometer von der Grenze zu den Niederlanden und rund 30 Kilometer vom Ruhrgebiet entfernt. Aber es könnte auch ganz woanders in unseren Breiten sein. Denn Weigelts Fotos sind mehr als Stadtansichten einer Stadt in Nordrhein-Westfalen, die im 15. Jahrhundert sogar eine bedeutende Hansestadt war. Viel mehr. Und eben weil das so ist, zeigen wir seine Kunst auch hier in Schleswig-Holstein, in Neustadt, fern seiner Heimat.
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Jochen Weigelt fotografiert aus neuen Perspektiven, ermöglicht mit seinen Bildern neue Blicke auf bekannte Motive. Er lässt uns Vertrautes neu sehen, indem er oft nur Ausschnitte wählt, die auf ein Ganzes verweisen. Jochen Weigelts Fotos sind Auslöser, die in unseren Köpfen ganz andere Bilder entstehen lassen, die Assoziationen, Gefühle, Erinnerungen wecken.
Das ist künstlerisch und dokumentarisch gleichzeitig, das ist sinnlich und nüchtern, komisch und ergreifend. Das ist immer persönlich, und man vermutet hinter jedem Bild eine Geschichte, die uns der Fotograf da erzählt. Jochen Weigelt ist ein Verführer, einer, der uns lockt nach diesen Geschichte hinter seinen Bildern zu fragen. Aber die Geschichten selbst bleibt uns der Künstler schuldig, da müssen wir schon unsere eigene Fantasie in Gang setzen. Tun wir das, beginnen die Bilder zu erzählen. Als Objekte mit Empathie und Respekt eingefangen, werden die Bildmotive bei Jochen Weigelt zum Subjekt. Einzigartig. Losgelöst. Er führt uns durch seine Welt, die auch die unsere ist, die wir aber so noch nicht gesehen haben. Wir sehen mit seinen Augen, fühlen uns aber nie bevormundet. Seine Entdeckungen werden zu unseren Entdeckungen. Seine Begeisterung wird zu unserer Begeisterung.
Seine Beschreibungen lenken unsere Wahrnehmung von sensationslüsternen Extremen (so kommen Fotos ja allzu oft daher) auf eine geordnete, vertraute Wirklichkeit. Und anders herum geht das auch, aber eben ein bisschen leiser: Seine Beschreibungen lenken unsere Wahrnehmung von der geordneten, vertrauten Wirklichkeit auf eine grelle, schrille, leuchtende Sensation. Seine Bilder sind in einem Moment heiter, im nächsten verwirrend. Er nimmt uns mit auf eine visuelle Reise durch zutiefst persönliche Szenen, aufgeladen mit Dingen, die sich nicht in Worte fassen lassen: Bilder als nicht erzählte Geschichten. Aber er macht dem Betrachter das Angebot, sich auf eine geheime Welt einzulassen und sich das enorme erzählerische Potenzial zu erobern, das sich hinter den Bildausschnitten verbirgt.
In den Fotos von Jochen Weigelt stehen Fremdes und Liebenswürdiges, Zerstörtes und Skurriles nebeneinander. Gemäß einer geheimen Weigeltschen Logik, offenbart sich ihr Sinn sehr langsam und niemals ganz vollständig. Weigelt ist ein Meister des Erfassens magischer Momente. Er entdeckt Verborgenes, holt Verborgenes hervor, er rückt versteckte Elemente in den Vordergrund, er sorgt dafür, dass sie nicht vergessen werden. Und lässt den Bildern doch ihr Geheimnis.
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In seiner Kunst greift Jochen Weigelt die Ästhetik und Technik der Reklame- und Produktfotografie auf. Er zeigt, wie unspektakuläre und gebrauchte Gegenstände durch präzise Inszenierung in begehrenswerte Objekte verwandelt werden können. Er zeigt, wie Dinge, die ausgedient haben, die am Ende ihrer Verwertungskette stehen als Widergänger unsere Fantasie, unsere Kultur, unsere Blickwinkel bereichern können. Das ist so planvoll, so vielfältig und stimmungsvoll, dass man nach einem gemeinsamen Nenner zu suchen beginnt. Und irgendwann findet man den dann auch. Das was die Bilder auszeichnet und verbindet ist: Poesie. Häuserfassaden, Brücken, Balkone, Graffitis, Garagentore, Jalousien, Telegrafenmasten, Beton, Eisen, Glas, Metall und immer wieder Mauern und Wände. Dinge, die von ihrer Zeit, von uns, vergessen wurden und werden. Lediglich Spuren der Zivilisation sind vorhanden. Das sind emotionale und meditative Prosaskizzen, Träumereien, zufällige Schnipsel, Vignetten einer Wirklichkeit, die schwer zu fassen sind. Traumlandschaften, Traumszenen. Impressionen von einer verschwindenden Vergangenheit, Impressionen von einer verschwindenden Wirklichkeit. Und mit eben seiner poetischen Fotografie kommt das alles ganz unaufgeregt daher. Sympathisch. Und dann sind die diese Fotos noch etwas. Sie sind flüchtig. Sie verschwimmen mitunter auf den Grenzen zwischen abstrakter Kunst und Landschaftsfotografie. Diese Fotos fordern den Betrachter dazu heraus, die Welt auf unerwartete Weise in einer einzigartigen Kombination aus Abstraktion und Fotorealismus zu erleben, zu entdecken, neu zusammenzusetzen.
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Eine Herausforderung sind vielleicht auch Titel. »Manche Fotos erschließen sich erst in der Kombination mit dem Titel«, hat der Künstler Jürgen Vogdt bei der Betrachtung der Fotos von Weigelt entdeckt, »die Titel sind keine Beschreibung der Fotos, sondern deren intellektuelle Ergänzung.« Wie begegnet man als Fotograf der massenhaften Bilderproduktion? Der Tatsache, dass zuviel gemacht, zu viel geknipst wird – und zwar auf allen Ebenen? Der Fotokünstler Boris von Brauchitsch hat dafür eine radikale Formel gefunden: »Jedes neue Foto muss hundert andere überflüssig machen.« Das führt zu maximaler Reduktion und Verdichtung. Das erleben wir auch auf den Fotos von Jochen Weigelt. Und er ist mit seinen Verdichtungen zugleich ein Chronist des Alltagslebens. Er erzählt vom allmählichen Verschwinden gewöhnlicher Dinge.
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Wie hat man sich den Fotografen bei der Arbeit vorzustellen? Durchstreift er auf der Suche nach den Objekten und Orten seiner Wünsche mit unbeirrbaren Blick die Landschaft, die Stadt, die ruhig und gelassen bekanntlich alle Wandlungen hinnimmt? Drückt er ab und zu auf den Auslöser und skizziert dabei punktgenau das unwägbare Gefühl zwischen Geborgenheit und Entfremdung? Wie kommt er zu seinen Bildtiteln? Was will er uns damit sagen? Ich weiß es nicht, aber vielleicht gibt uns Jochen Weigelt ja gleich noch einen Einblick in sein Tun. Er ist heute hier, nur heute hier und ich kann Ihnen sagen, so verschlossen wie er tut, ist er nicht. Er ist so humorvoll wie einige seiner Fotos. Herzlich Willkommen, Jochen Weigelt!